Virtual Reality für eine bessere Welt

Von Claudia Wohlert

Ob im Netz, beim Face-to-Face in der Fußgängerzone oder auf der Charity-Veranstaltung, 360-Grad-Fotos und -Videos haben inzwischen ihren festen Platz im Fundraising. Besonders in den sozialen Medien und auf den gängigen Video-Plattformen sind sie zu finden, um potenziellen Spendern die Geschichten der NPO nahezubringen.

Während früher der Fotograf den Blick des Betrachters lenkte und die Kontrolle darüber behielt, was wir sehen und wie lange, kontrolliert es der Zuschauer bei Virtual Reality (VR) selbst. Inhalte werden nicht länger passiv konsumiert, der Nutzer kann aktiv interagieren und wird direkt mit einbezogen. Diese Form der Interaktion stimuliert Bereiche im Gehirn, die für das Lernen notwendig sind. Dadurch bleibt der gesehene Inhalt besser im Gedächtnis haften.

Virtual Reality Brille Virtual Reality Brille. Foto: © Shotshop In der Regel werden hochwertige 360-Grad-Fotos, die sich aus mehreren Einzelbildern zusammensetzen, mit einer Spezialkamera aufgenommen. Der Nutzer kann ähnlich wie beim Google-Dienst Street View die Perspektiven und den Zoom manuell verändern. Auf diese Weise taucht der Zuschauer noch intensiver und unmittelbarer ins Geschehen ein.

Das Flüchtlingskamp als 360-Grad-Panorama

Ein beeindruckendes Beispiel für ein 360-Grad-Panorama veröffentlichte Spiegel Online zusammen mit der internationalen NGO Humenica über das Flüchtlingscamp Melkadida in Äthiopien. Bei diesem Kugelpanorama besteht die Möglichkeit, sich gewissermaßen dreidimensional im Lager umzusehen, den Blick um die eigene Achse zu wenden und auch nach oben und unten zu schauen. Daneben können die Nutzer weitere 360-Grad-Fotos im Panorama anklicken, die detaillierte Informationen über die Menschen und ihr Leben im Flüchtlingscamp preisgeben. Text-Informationen und Audios komplementieren dieses multimediale Webspecial, das optisch wie inhaltlich eine große Tiefe erreicht.

Der Betrachter soll mit diesem Informations- und Erlebnispaket für die Aussichtslosigkeit der Menschen in Flüchtlingscamps sensibilisiert werden. Auch wenn einzelne Somalier sich ihr Leben dort eingerichtet haben, so fehlt den meisten jegliche Perspektive, jemals wieder ein Leben außerhalb des Camps zu führen.

Steffen Richter, Pressesprecher von Humenica, sagt dazu: „Für uns war diese besondere Form der Dokumentation sehr wichtig, um unsere Unterstützerinnen und Unterstützer im Wortsinne mit hineinzunehmen in die Situation der Geflüchteten von Melkadida. Was bedeutet für sie Alltag? Wie ist die medizinische Versorgung? Gibt es einen Friseur? Was sind die Perspektiven? Vom Ergebnis kann man konstatieren, dass diese Unmittelbarkeit von einer sehr beeindruckenden Intensität für die Nutzerinnen und Nutzer ist. Entsprechend hoch waren die Zugriffszahlen auf unseren Ausspielkanälen, wobei wir das Thema Fundraising in diesem Kontext eher in einem zweiten oder dritten Schritt verorten; uns ging es eher um Themen wie Schaffung von Identifikationspotenzialen und Bindung unserer Förderer. Als klarer Bonus hat sich erwiesen, dass durch die Finanzierung über eine gewonnene internationale Ausschreibung der Fotograf Jürgen Schrader keinerlei Einschränkungen bei der Umsetzung hatte und wir mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel zudem einen reichweitenstarken Publikationspartner bekamen.“  

Bewusstsein für Missstände durch 360-Grad-Videos schärfen

Aber nicht nur 360-Grad-Fotos faszinieren ihre Betrachter. Auch bewegte Videobilder, bei denen der Zuschauer selbstständig die Perspektiven in einer Sequenz wählen kann, fast so, als wenn er sich persönlich vor Ort umschauen würde, verfehlen nicht ihre Wirkung. Um das Bewusstsein für die Ursachen von Missständen zu schärfen, verwenden einige Organisationen 360-Grad-Videos. Bei einer Spendengala von Charity: Water zugunsten weltweiter Wasserprojekte setzten die Organisatoren erstmals eine VR-Brille mit einem Video ein. Die 400 Gäste wurden mitgenommen nach Äthiopien, um am Leben eines 13-jährigen Mädchens und ihrer Familie eine Woche lang teilzunehmen. Die Familie hatte das erste Mal in ihrem Leben sauberes Wasser bekommen. Am Ende des Abends verpflichteten sich die Besucher 2,4 Millionen Dollar zu spenden – viel mehr als die Organisation erhofft hatte.

Lernprozesse in Gang setzen

Und auch in Deutschland benutzen Organisationen die VR-Brille und das 360-Grad-Video, um dem Betrachter das Gefühl zu geben, live dabei zu sein. Animal Equality, eine internationale Organisation, die die Grausamkeiten in der Massentierhaltung beenden will, fokussiert sich in ihrer Aufklärungsarbeit auf VR-Videos. Um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu steigern, werden eine Reihe emotionaler Elemente aufgezählt. In dem Video über Milchkühe bekommt der Betrachter in eindrucksvollen Szenen die Gewalt und Misshandlungen an Kühen, von der Geburt bis zum Tod, gezeigt. Durch derart aufgebaute Geschichten kann ein Lernprozess beim Zuschauer ausgelöst werden. Das ersetzt zwar nicht die eigene Erfahrung, aber durch das „Mit-Leiden“ wird eine ähnliche Wirkung erzielt.

Echte Empathie oder Voyeurismus?

VR ist augenblicklich einer der aufregendsten Technologietrends und wird es wohl auch in naher Zukunft bleiben. Sobald das Equipment zur Herstellung von hochwertigen 360-Grad-Fotos und -Videos kostengünstiger zu erwerben ist, greifen sicherlich auch kleinere gemeinnützige Organisationen zu diesem Fundraising-Tool. Immer in der Hoffnung, dass Menschen durch entsprechende Aufnahmen ihre Einstellungen ändern, weil sie die Ereignisse besser nachvollziehen können. Dabei sollten die Macher aber nicht aus dem Auge verlieren, dass eine Emotion, die beim Schauen eines Videos wahrgenommen wird, nicht mit Empathie, der emotionalen Identifikation mit einer anderen Person, gleichzusetzen ist.

Und dass nicht jedes Spenden-VR-Video zum Erfolg führt, musste auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2017 erleben, nachdem er einen gutgelaunten virtuellen Rundgang durch das von Hurrikan Maria verwüstete Puerto Rico ins Netz stellte. Er hatte es wohl gut gemeint, wollte unter anderem auf die neue Partnerschaft mit dem amerikanischen Roten Kreuz hinweisen, aber stattdessen erntete er einen Shitstorm. Das Netz warf ihm Voyeurismus und Ignoranz vor.

Wie sich das Verhältnis des Betrachters zu Virtual Reality entwickeln wird, kann niemand vorhersagen. In der Regel setzt aber beim Menschen eine nicht-bewusste Form des Lernens ein, wenn er wiederholt einem starken Reiz ausgesetzt ist. Die Reaktion darauf schwächt sich allmählich ab und unterbleibt womöglich völlig, selbst bei dramatischen Szenen. Somit würden auch schockierende Aufklärungs-Videos mit der Zeit an Dramatik verlieren und der gewünschte Effekt bliebe aus.
 

Claudia Wohlert, freie Journalistin und Fundraising-Managerin (FA),
text-agentur@claudia-wohlert.com.

 

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