„Digitales Erzählen macht richtig Spaß!“ – Storytelling im World Wide Web

Von Claudia Wohlert

Bernhard LillWie geht klassisches Geschichtenerzählen im digitalen Zeitalter? Das verrät der Journalist Bernhard Lill. © Bernhard LillHeutzutage bestimmen Internet und Digitalisierung das alltägliche Leben der meisten Deutschen. Und auch vor dem klassischen Geschichtenerzählen macht die digitale Welt nicht halt. Authentische Fotos, sparsamen Text und Videos zu kombinieren, ist einfach und verleiht dem ganzen Web-Auftritt eine Dynamik, die von Spendern leicht aufzunehmen ist. Sie können interagieren und kommentieren. Sie teilen gute Geschichten mit anderen und schaffen so eine größere Reichweite. Welche Möglichkeiten auf eine gemeinnützige Organisation warten, wenn sie sich auf den Weg in die digitale Welt macht, beschreibt Bernhard Lill, Journalist und Experte für multimediale Geschichten, im Interview mit Claudia Wohlert.

Was ist der Unterschied zwischen offline und online Storytelling?

Bernhard Lill: Zunächst einmal gibt es eine große Übereinstimmung: In beiden Fällen geht es beim Storytelling darum, anhand eines Menschen eine spannende Geschichte zu erzählen oder durch die Lebensgeschichte eines Menschen ein gesellschaftliches Phänomen zu erklären. Der Unterschied aber liegt darin, dass in Magazinen und Zeitungen diese Geschichte hauptsächlich über Text vermittelt wird. Fotos, Karten, Grafiken und so weiter dienen meist der Illustrierung. Beim digitalen Storytelling hat der Text in der Regel eine andere Funktion: Er verbindet die multimedialen Elemente, die die eigentliche Geschichte erzählen. Er teasert sie an, führt zu ihnen hin. Das ist aus der Erfahrung entstanden, dass bei unterhaltenden Formaten, wie es Reportagen nun einmal sind, viele Nutzer online lieber wischen, klicken, scrollen und schauen, als längere Textpassagen intensiv zu lesen.

Müssen Sprache und Schreibstil deshalb anders sein als bei einer offline Story?

Lill: Nein. Die eingängige und präzise Sprache, die einen guten Print-Text ausmacht, funktioniert auch online. Allerdings müssen wir im Netz noch schneller auf den Punkt kommen. Und uns gut überlegen: Wo ist Text sinnvoll und wo ist er für die Suchmaschinenoptimierung gar unerlässlich. Außerdem: Welche Aspekte der Geschichte erzählen wir lieber über einen kurzen Film, eine packende (!) Bilderstrecke, eine interaktive Grafik oder über ganz neue Apps beziehungsweise Online-Tools.

Welche Erzählformate gibt es beim digitalen Storytelling?

Lill: Da gibt es noch keinen festgelegten Kanon, keine lang etablierten Genres wie bei Print. Aber es haben sich bereits drei, vier Arten zu erzählen herausgebildet. Zum einen die Audio-Slideshow, eine – einfach ausgedrückt – vertonte Diaschau. Sie eignet sich gut für ruhigere Stücke, für Porträts. Herausragende Beispiele findet man bei den Berlin-Folgen der taz, bei denen hundert Berliner porträtiert werden. Dann gibt es die Multimedia- oder Scrollytelling-Reportage, die sich durch das Herunterscrollen erschließt. Der Hype um dieses Format fing mit einer Online-Reportage der New York Times an, Snowfall. Viele deutsche Redaktionen haben das zum Anlass genommen, sich an diesem Format auszuprobieren – mit vielen guten Ergebnissen. Ein weiteres Genre ist das multimediale Dossier, das eine Geschichte nicht mehr linear erzählt, sondern deren viele Facetten einzeln in mehreren Unterkapiteln beleuchtet. Ein gutes und frühes Beispiel dafür ist das Dossier „Lebrew Jones and the Death of Micki Hall“. Und dann gibt es noch das Web Documentary oder News Game, bei dem sich der Nutzer wie bei einem Rollenspiel durch die Nachrichtengeschichte hangelt. Der Fernsehsender Arte hat unter anderen damit experimentiert. Doch gerade das letzte Format ist für die meisten kleineren Redaktionen zu aufwändig – finanziell und personell.

Was braucht man fürs digitale Storytelling?

Lill: Das hängt vom Format ab. Für eine Audio Slideshow reichen eine Spiegelreflex-Kamera, ein digitales Aufnahmegerät, eine Videoschnittsoftware und eine Plattform wie YouTube oder Vimeo. Ein Redakteur kann das gut allein bewältigen. Für eine Scrollytelling-Reportage brauchen Sie ein Online-Tool wie zum Beispiel Shorthand Social, das kostenlos ist, oder Pageflow, mit dem man ab 8,50 Euro pro Monat im Netz publizieren kann. Auch das kann eine Person noch alles allein leisten. Für ein multimediales Dossier wiederum benötigen Sie ein Content Management System. Das gibt es unter anderem mit Wordpress kostenlos. Dann fallen allerdings unter Umständen monatliche Gebühren für den Webspace und den Domain-Namen an.

Wie viel technisches Know-how muss bei der Herstellung einer digitalen Story vorhanden sein?

Lill: Das ist nicht leicht zu beantworten. Wenn jemand den überwiegenden Teil seines Lebens ausschließlich im Print-Bereich gearbeitet und nie O-Töne oder ein Video geschnitten hat, dann wird er ein wenig länger für den Einstieg in die digitale Welt brauchen. Mein Rat aus eigener Erfahrung: einfach anfangen und ausprobieren. Die meisten Tools sind sehr intuitiv. Und: Keine Berührungsängste vor digitalen Werkzeugen haben. Sie können nichts falsch- oder kaputtmachen. Im Gegenteil: Machen Sie so viele Fehler wie Sie können. Denn daraus lernen Sie, Ihre Geschichte noch besser zu erzählen. Aber das Wichtigste ist: Digitales Erzählen und Ausprobieren macht richtig Spaß. Auch wenn man noch Anfänger auf diesem Gebiet ist.

Muss ich mit hohen Kosten rechnen?

Lill: Nicht unbedingt. Es gibt viele Tools und Apps, die kostenfrei sind. Es hängt allerdings sehr stark davon ab, wie sehr Sie die Kontrolle über Ihr Material behalten wollen. Wenn Sie kostenfreie Dienste nutzen, kann die Firma von heute auf morgen pleitegehen. Und mit ihr verschwindet dann Ihre Geschichte aus dem Netz. Oder die Firma ändert kurzfristig ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Nachteil der Nutzer. Auch müssen Sie sehr aufpassen, wenn es um Rechte geht. Sichern sich die kostenfreien Dienste ein Recht an Ihrem Material? Da müssen Sie sich die Geschäftsbedingungen genau anschauen. Doch mit Pageflow zum Beispiel gibt es auch ein erschwingliches Scrollytelling-Tool, das für den WDR entwickelt wurde, aber nun von jedem genutzt werden kann.

Womit würden Sie anfangen, wenn Sie neu auf diesem Gebiet wären?

Lill: Mit einer Scrollytelling-Reportage und dem Tool Shorthand Social. Für das brauchen Sie nur ein Twitter-Konto zum Einloggen, aber dann können Sie gleich loslegen und schon nach kurzer Zeit beachtliche Ergebnisse erzielen.

Sehen Sie für NGOs die Notwendigkeit, ihre Spender multimedial anzusprechen?

Lill: Nicht nur für NGOs. Alle, die gerade auch jüngere Zielgruppen ansprechen möchten, sollten multimedial arbeiten. Dabei hat die alte, unheilige Dreifaltigkeit Text-Foto-Video längst ausgedient. Mit Apps wie JamSnap können Sie beispielsweise Fotos zum Sprechen bringen, indem Sie Bilder mit Audio-Dateien verknüpfen. Auch so können Sie Geschichten erzählen, die zudem viel frischer wirken. Im Übrigen hilft Ihnen digitales Storytelling nicht nur den Intellekt der Nutzer anzusprechen, sondern auch ihre Emotionen. Und deshalb wirken Geschichten, die Sie über die Schicksale von Menschen transportieren, länger nach.

Was treibt Sie an, multimedial zu arbeiten?

Lill: Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren Journalist, habe Reportagen und Hintergrundberichte für Print-Publikationen wie Brigitte, Stern und Zeit geschrieben. Ich arbeitete außerdem als Hörfunkreporter und ‑moderator. Und das alles mit viel Freude. Doch am spannendsten finde ich das Netz, weil es uns Journalisten die Möglichkeit gibt, die besten Formate aus Print, Hörfunk und Fernsehen auf einer Plattform zusammenzuführen und durch Apps sowie Online-Tools neue Erzählformen zu entwickeln. Und: Weil wir gerade hier auch die jüngeren Nutzer ansprechen können. Welches andere Medium bietet uns das alles?

 

Bernhard Lill arbeitet als Journalist, Berater und Trainer in Hamburg. Seine Schwerpunkte sind Mobile Journalism, Digital Storytelling, Social Media und Texten fürs Web. Außerdem betreibt er den Blog www.dermedientyp.de. Seit 2002 hat er als freier Texter und Redakteur unter anderem für Brigitte und www.brigitte.de gearbeitet, für Stern, Zeit, ADAC-Reisemagazin und NDR Info.
 
Kontakt: www.bernhardlill.de, mail@bernhardlill.de

 

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