Story Telling ist ein alter Hut

Von Dr. Christoph Müllerleile

Dr. Christoph MüllerleileDr. Christoph MüllerleileMancher Maillingbrief beginnt so: „Unsere Rettungsschwimmer an den Küsten, vor allem an der Nordsee, verrichten ihre lebensrettende Arbeit unter besonders harten Bedingungen. Hier, wo die wogenden Wellen der Meere mit ungezügelter Wucht an den Strand prallen, wo Gezeitenströme mit unbändiger Kraft wirken, haben die Männer und Frauen alle Hände voll zu tun, um die Wassersicherheit zu gewährleisten. Gerät ein Mensch in den Küstengewässern in Wassernot, zählt jede Sekunde, denn kaum ein Schwimmer kann lange gegen die tückischen Strömungen ankämpfen…“

Bis dahin haben die meisten Empfänger den Brief bereits zur Seite gelegt, denn eigentlich hätte er so beginnen müssen: „Petra Müller verbringt ihren Sommerurlaub am liebsten an der Nordsee. In der kleinen Pension in St. Peter-Ording fühlt sie sich wie zu Hause. Der flache Strand ist nahe. Für geübte Schwimmer wie sie ist die hohe Flut die beste Zeit. Am 17. August letzten Jahres startet sie später als sonst, als sich das Wasser gerade zurückzieht. Wieder schwimmt sie nach draußen und wie immer alleine. Dann kommt der Wadenkrampf. Sie treibt ins offene Meer. Ihre Schreie scheint niemand zu hören.

Um diese Zeit hat Heinz Franke Dienst in unserer Rettungsstation, knapp 500 Meter von der Stelle entfernt, an der Petra Müller ins Wasser gegangen ist. Er kennt die tückischen Strömungen in den Küstengewässern nur zu gut. Mit seinem Fernglas sucht er den Horizont ab. Plötzlich entdeckt er etwas, das ihn augenblicklich alarmiert. Er kann Petras Hilfeschreie nicht hören, aber das verzweifelte Schlagen ihrer Arme gegen den Sog, der die Hilflose hinauszieht, erkennt der geübte Rettungsschwimmer sofort. Er alarmiert Franziska Meyer und Ferdinand Otto, die mit ihm die Wache teilen. Sofort springen Frank und Franziska ins Rettungsboot, legen die Rettungswesten an und fahren los. Ferdinand hält in der Station Kontakt und beobachtet den Strand.

Hart muss das Spezialboot gegen die Strömung ankämpfen. Die Gezeiten entwickeln unbändige Kraft, und allzu leicht geraten die Retter selbst in Gefahr. Es bedarf einer gründlichen Ausbildung und viel Erfahrung, damit eine solche Rettung gut ausgeht. Als das Rettungsteam die Urlauberin erreicht, gibt sie kaum noch Lebenszeichen von sich…“ Die Geschichte geht weiter mit Petras Rettung und weiterer Versorgung; sie bedankt sich später bei ihren Rettern, wird zu Hause Mitglied der Ortsgruppe, macht den Rettungsschein und hält in ihrer Freizeit Beckenwache im Freibad ihrer Heimatgemeinde im Spessart. Und sie schwimmt auch nicht mehr alleine. „Bei den Rettungsschwimmern habe ich die Liebe meines Lebens gefunden“, verrät sie stolz.

Das Erzählen von Geschichten ist so alt wie die Menschheit. Die immer zahlreicher angebotenen Seminare und Workshops zum Thema Story Telling können sicherlich brauchbares Rüstzeug für das Schreiben guter Geschichten liefern. Die „Storys“ müssen dann aber auch durchgehalten werden, das heißt es muss die ganze Geschichte erzählt werden. Selbst Briefe, die mit einer guten Geschichte anfangen, münden oft schon nach dem ersten Absatz in die Standardfloskel „So wie Petra Müller ergeht es jährlich tausenden, denen die DLRG hilft. Bitte helfen Sie der DLRG, Menschen wie Petra zu retten!“ Natürlich sollte der Satz vorkommen und klar die Bitte um Spenden geäußert werden. Aber besser am Schluss, wenn die Leute vom Anliegen überzeugt sind. Welche Chancen werden da vergeben! Warum wohl haben Sonntags-FAZ, die Zeit, der Spiegel, und der Stern auf große Geschichten umgeschaltet, die mit viel Text und großen Bildern bis zum Ende erzählt werden, ohne das Lesepublikum eine Sekunde zu langweilen. Spielfilme, Dokumentationen, Reportagen im Fernsehen laufen am besten, wenn sie ganze Geschichten erzählen, große Ereignisse am Beispiel einer einzelnen Person oder Familie schildern. Unzählige Leute schreiben ihre Lebensgeschichten, verfassen Krimis, Liebesromane; alle erzählen Geschichten, und die am besten erzählten werden zu Bestsellern.

Doch in unseren Mailings scheuen wir davor zurück, Geschichten farbig und komplett zu erzählen. Dann fangen Briefe manchmal so an: „Seit Jahren kümmert sich Unsere Hilfe weltweit e.V. um leidende Kinder in von Kriegen und Naturkatastrophen zerrissenen Regionen auf der ganzen Welt. Häufig, ohne dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt. Ein einheimischer Sozialarbeiter in Afrika bezeichnete uns einmal als ‚unsichtbare Engel’. Doch dieses Mal brauchen die ‚Engel’ Helfer: es geht um das Leben von unschuldigen Frauen und Kindern! Aus Zentralafrika erreichen uns verzweifelte Notrufe: jeden Tag sterben hunderte von Kindern an Hunger, Malaria und Ruhr! Die Menschen kämpfen um ihr Leben. Unsere Helfer an den Essensausgabestellen berichten von Müttern, die mehr tot als lebendig um etwas Nahrung flehen – nach tagelangen Fußmärschen mit ihren Babys auf dem Arm." Das ist keine Geschichte, sondern ein Versatztext, der auf Hilfe für die Philippinen genauso aufgepfropft werden kann wie für Somalia oder den Sudan. Die „unsichtbaren Engel“ bleiben bis zum Ende des Mailings unsichtbar und ebenso dubios wie der „einheimische Sozialarbeiter“. Sie existieren vielleicht nur im Kopf eines viel beschäftigten Werbetexters. Denn selbstverständlich hätte er auch hier eine einprägsame Geschichte erzählen können. Die hätte allerdings nachprüfbar sein müssen.

Geschichten müssen stimmen. Schließlich handelt es sich nicht um Märchen, mit denen arglose Förderer geködert werden sollen, sondern um Berichte aus dem Leben. Wenn sie nur Beispiel für viele sind, muss das gesagt werden, ebenso wenn die Namen der Akteure geändert wurden. Am leichtesten lassen sich Geschichten über weit entfernte Ereignisse erzählen, am schwersten nachprüfbare aus dem Nahbereich der potentiellen Förderer. Hier muss ich mir an die eigene Brust klopfen. Seit Jahren sammle ich Spenden für die Restaurierung eines Ehrenmals zum Andenken an im Ersten Weltkrieg Gefallene meiner Heimatstadt. Nie habe ich die Geschichte der Kriegsteilnehmer erzählt. Tagebücher gibt es nicht oder zumindest nicht mehr. Aber wenn ich jetzt Geschichten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg lese wie zum Beispiel den nüchternen Tatsachenroman „Heeresbericht“ von Edlef Köppen, dann hätte ich leicht nacherzählen können, wie es den von falscher Begeisterung erfassten jungen Leuten vor 100 Jahren ergangen sein mag, die im August 1914 aus Oberursel in den Krieg zogen und meinten, zu Weihnachten wieder zuhause zu sein.

Eine der erfolgreichsten spendensammelnden Organisationen in Deutschland, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, hat immer Geschichten erzählt. Eine beginnt so: „Voller Liebe waren die Briefe, die Margot Z. ihrem Verlobten Philipp im Kriegsjahr 1943 an die russische Front schrieb. ‚Komm gesund zurück!’ bittet sie immer wieder – in der Hoffnung, dass sie später, wenn der Krieg zu Ende ist, ein ganzes Leben miteinander verbringen können. Ein Leben mit glücklichen Tagen, wie sie es im letzten gemeinsamen Sommer noch erleben durften. Margots Wunsch geht nicht in Erfüllung. Mit dem Vermerk ‚Gefallen für Großdeutschland’ kommen ihre letzten Briefe an Philipp zurück. Am 24. November 1943 ist er nach einem Gefecht gestorben. Margots innige Worte haben ihn nicht mehr erreicht. Und niemals mehr wird sie ihm von Angesicht zu Angesicht sagen können, wie sehr sie ihn liebt. In ihr Tagebuch schreibt sie: ‚Lass ihn wiederkommen, lass ihn wiederkommen … So könnte ich schreien, schreien, bis die ganze Welt erwacht, schreien bis weit nach Russland, bis an ein fernes, einsames Grab…’“

Margot Z. Ist keine Erfindung professioneller Textschreiber. Der Umschlag mit dem Rücksendevermerk „Gefallen für Großdeutschland“ ist mitten im Brief abgedruckt. Dem Mailing beigefügt ist ein Foto von Margot mit Philipp in Uniform aus glücklichen Tagen im Sommer 1943 und ein anderes aus dem Jahre 2002, auf dem Margot vor Philipps letzter Ruhestätte bei Sewastopol auf der Krim kniet. Das ganze Mailing besteht aus einer einzigen Geschichte. Der Erzähler erzählt sie so, dass sie uns anrührt. Eine Mahnung zum Frieden und gegen das Vergessen.

Ich habe schon früher dafür plädiert, längere statt kürzerer Spendenbriefe zu schreiben. Das kann man übrigens testen, und ich gehe jede Wette ein, dass die gut geschriebene Geschichte von vier Seiten gegen das Stakkato des einblättrigen „spendet jetzt, sofort, immer wieder“, bei dem die Story auf bunt bebilderten Beilagen zerfleddert wird, um Längen gewinnt. Nicht dass die Leute immer alles in voller Länge lesen würden, was geschrieben wird. Aber die, die lesen wollen, verfolgen die Geschichte bis zum Ende. Die anderen sagen sich, dass der Briefschreiber sich zumindest Mühe gegeben hat, seine Sache anschaulich zu erläutern.

Ich selbst würde vorbehaltlos zu einem Seminar gehen, bei dem ein Neurowissenschaftler Erkenntnisse über Story Telling anbietet. Allerdings würde ich ihn nach seinen Ausführungen bitten, ein paar Erfolgsstorys aus seiner Fundraising-Praxis zu erzählen. Es gibt nämlich viele, die genau wissen wie es geht, aber nicht schreiben und schon gar nicht erzählen können. Und es gibt andere, wie etwa Rupert Neudeck oder Jürgen Todenhöfer, die ihr Leben lang Geschichten erzählt und damit viel Geld für gute Zwecke gesammelt haben und gar nicht wissen, dass sie exzellente Fundraiser sind.

 

Dr. Christoph Müllerleile ist freier Fachautor für Fundraising und Philanthropie. Der Kommentar stellt seine persönliche Meinung dar. Kontakt: muellerleile@fundraising-buero.de

 

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