Überraschend erben

Müllerleile Kolumnist Dr. Christoph Müllerleile meint ...
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Von Dr. Christoph Müllerleile

Jeden Tag sucht „Spiegel Online“ aus der Nachrichtenlage nach Gewinnern und Verlierern. Am 7. Mai erklärte Chefkorrespondent Roland Nelles die New Yorker Wohlfahrts-Organisation „Henry Street Settlement“ von der Lower East Side zur „Gewinnerin des Tages“. Die Gruppe erhielt gerade eine schöne Spende über 6,24 Millionen Dollar. Allerdings kam das Geld nicht von einem der typischen New Yorker Philanthropen, sondern aus dem Nachlass einer bis dato völlig unbekannten Sekretärin einer Anwaltskanzlei namens Sylvia Bloom. Zu ihren Lebzeiten hat Frau Bloom laut New York Times still und leise ein Vermögen angehäuft. Immer wenn ihr Chef über sie eine Aktienorder an seine Bank durchgab, kaufte sie das gleiche Wertpapier nur in kleinerer Stückzahl. Ihr Vermögen wuchs bis zu ihrem Tod mit 96 Jahren auf insgesamt neun Millionen Dollar an. Ein kleinerer Teil ging an Freunde und Verwandte. Mit der Erbschaft hatte bei dem im Stadtteil engagierten Sozialverein niemand gerechnet.

Ähnlich verschwiegen ging es bis zum Tode der Frankfurter Bankierswitwe Gertrud Kassel zu, deren Mann Alfred 1975 starb und ihr ein Vermögen von 4 Millionen Mark, angelegt in Aktien, hinterließ. Die Ehe war kinderlos geblieben. 1985 ließ Gertrud Kassel durchblicken, dass sie ihr Vermögen der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität übertragen wolle. Sie nannte 10 Millionen Mark und erbat sich absolute Verschwiegenheit darüber. Als sie 2007 starb, wusste niemand mehr von dem Versprechen. Der Wert der Aktien hatte sich auf 33 Millionen Euro vermehrt, die in die Universitätsstiftung flossen. Die Hessische Landesregierung verdoppelte diese und andere eingegangene Privatspenden, worauf sich die Universität 2008 in eine Stiftungsuniversität öffentlichen Rechts umwandeln konnte.

Erbschaftsfundraising gewinnt bei den Organisationen angesichts stagnierender Spendenbereitschaft und wachsender Fundraising-Konkurrenz immer größere Bedeutung. Die Deutsche Krebshilfe ist hier seit langem Vorreiter und nimmt praktisch jeden Tag eine größere Erbschaft oder ein Vermächtnis entgegen. Aber auch für die verwöhnten Erbschaftsnehmer kam es im Juli 2016 zu einer Überraschung, als aus einem Nachlass plötzlich 141,4 Millionen Euro an den Verein flossen. Das Geld stammte aus dem Erbe von Wolfgang Bader, dem ehemaligen Mitgesellschafter des Versandhauses Bader in Pforzheim. Laut Südwestrundfunk konnte der Vorstandsvorsitzende der Krebshilfe es zunächst nicht glauben, als er per Mail von der Großspende erfahren hatte. Gerd Nettekoven sagte gegenüber dem Sender: „Ich habe als Erstes aufs Datum geschaut, ob da der 1. April steht.“

Fundraiser Mark Meid berichtete auf dem Fundraising-Kongress 2013 über den Kontrast zwischen seinen eigenen Erfahrungen und den Weisheiten teurer Seminare über Erbschaftsfundraising mit hochglänzenden Broschüren, bei denen man alles lerne, nur nicht wie man eine tatsächliche Erbschaft abwickle. „Keine der eingegangenen Erbschaften war irgendwie geplant, absehbar gewesen oder schön theoretisch über viele Jahre aufgebaut worden. Und einfach war keine einzige Abwicklung“, schrieb er in seinem Blog.

Umso wichtiger ist, dass der Deutsche Fundraising Preis 2018 an zwei beispielhafte Erbschaftsinitiativen ging, die alles andere als praxisfremd sind, nämlich die Gemeinschaftsinitiative „Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum“ und die Erbschaftsinitiative „Was bleibt“ der Evangelischen Landeskirche in Baden. Sie sind geeignet, Vorbehalte aufzubrechen und die Weitergabe von Mitteln für gute Werke an die nächste Generation so selbstverständlich zu machen wie die gute Gabe zu Lebzeiten. Beide Kampagnen leisten hier Pionierarbeit, weil die Ideen und Vorschläge von den beteiligten Institutionen leicht adaptiert werden können. Beide Kampagnen räumen mit dem Vorurteil auf, dass man nur ein paar reiche Wohltäter finden, tüchtig pflegen und an die Spitze der Spenderpyramide hieven müsse. Wichtig sei eher, den Gedanken, der Nachwelt durch Vererben Gutes zu tun, in der Gesamtbevölkerung oder zumindest in der Gesamtheit der dem Anliegen Nahestehenden einzupflanzen, um dann unverdient zu ernten.

Die erste Millionenerbschaft, mit der ich selbst zu tun hatte, stammte von einer Sekretärin mit bescheidenem Häuschen und großem Grundstück im Berliner Grunewald. Sie wollte der Umwelt Gutes tun, hatte Gutes über uns gehört und stand nicht einmal in unserer Spenderkartei.
 

Der Autor ist freier Fachautor für Fundraising und Philanthropie. Der Kommentar stellt seine persönliche Meinung dar. Kontakt: muellerleile@fundraising-buero.de
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